Das Wort zum Sonntag
Es folgt ein langer Artikel, aber es ist auch ein wichtiges Thema. Wer’s kürzer mag, dem hilft vielleicht Bürgerrechte wählen.
Morgen ist Europawahl. Und da ich mir über wichtige Entscheidungen nicht nur bei der Providerwahl ausführlich Gedanken mache, habe ich auch bei den zur Wahl stehenden Parteien ausführlich verglichen, unter den Gesichtspunkten, die die Leser dieses Blogs womöglich auch als relevant erachten. Und weil ich ja unendlich selbstlos bin, lasse ich euch an meinen Ergebnissen teilhaben.
Es ist bei der umfangreichen Menge an teilnehmenden Parteien, nämlich 32, nicht so einfach, den Überblick zu bewahren. Deshalb ist man als Wähler vielleicht geneigt, jemanden zu wählen, den man kennt, bevor man sich über Leute wie die Bürgerrechtsbewegung Solidarität erst mal ausführlich informieren muss. Also beschränken wir uns einfach mal auf die in Deutschland „etablierten“ Parteien — und nehmen sie Schritt für Schritt auseinander.
Letztjähriger Sieger war die CDU/CSU. Zu denen kann ich mich relativ kurz fassen, weil ich die noch nie für wählbar gehalten habe und da auch nicht alleine bin: netzpolitik.org nimmt mir mit der Wahlempfehlung „nicht CDU/CSU“ schon viele Argumente vorweg, und wenn Namen wie Angela Merkel, Wolfgang Schäuble und Ursula von der Leyen noch nicht ausreichen, um euch zu überzeugen, dann vielleicht kindische Wir-geben-uns-als-die-SPD-aus-Aktionen? Mal ehrlich. Für jedes Kreuz neben „CDU“ auf dem Wahlzettel tötet Gott ein Kätzchen.
Also zum zweiten großen Spieler, die SPD. Lasst euch da nicht von vermeintlichen „die-sind-auf-unserer-Seite“-Nachrichten täuschen: Die SPD ist, was das Internet angeht, genauso verkalkt wie ihr schwarzer Gegenspieler. Es gibt zwar Lichtblicke wie den Herrn Tauss (bei dem man, bevor man ihn für pädophil hält, sich erst mal überlegen sollte, ob da vielleicht was inszeniert war oder einfach mal seine Sicht der Dinge lesen), aber es bräuchte mindestens zwanzig Tausse, allein um die inkompetente arrogante Unkerei von Dieter Wiefelspütz aufzuwiegen. Letzterer zeigt auch gleich deutlich, dass die Partei, die sich gerade selbst in heiße Luft auflöst, mitnichten auf unserer Seite ist: Demnächst sollen nicht nur Kinderpornos geblockt werden. (Oh, und ganz aktuell: Nee, ach, da ham wir ihn falsch verstanden, weil zum Verzapfen von solch „politischem Unfug“ ist er „nicht fähig“. Ich meine: Nicht so schüchtern, klar können Sie das!) Und von den beiden mal abgesehen hört man im Internet nicht allzu viel von der SPD, außer vielleicht einem regelmäßigen dumpfen Aufschlag, wenn die Zypries mal wieder umfällt. Ist aber vielleicht auch besser so, denn grundlegendes technisches Verständnis ist bei denen nicht vorhanden.
Außerdem haben wir CDU und SPD die Vorratsdatenspeicherung zu verdanken. Vergesst das nicht. Auch wenn die Medien nicht mehr darüber berichten: Eure Mails und Telefonate werden protokolliert. Tag für Tag.
Wie wär’s also mit der FDP? Naja. Ich habe zwar großen Respekt vor Sabine Leutheusser-Schnarrenberger wegen dem Rücktritt damals beim Großen Lauschangriff, aber andererseits hat die FDP damals ja mit über 60% dafür gestimmt. Gut, das ist ja jetzt auch schon fast 15 Jahre her, bleiben wir lieber in der Gegenwart. Und da sieht’s düster aus für die FDP. Jedem, dem die aktuelle Krise nicht gezeigt hat, dass ein möglichst unregulierter Markt kein erstrebenswerter Zustand ist, spreche ich erst mal grundlegende kognitive Fähigkeiten ab. Das allein wäre schon Grund genug, sein Kreuz woanders zu machen. Aber abgesehen davon ist die FDP gerade zu sehr mit Schlammschlachten bei Twitter und dem Verklagen der wenigen verbliebenen investigativen Journalisten beschäftigt, um irgendwie unterstützenswert zu sein.
Okay. Vielleicht die Linkspartei? Muss ich ehrlich sagen: Keine Ahnung. Ich glaube, die sind in der Opposition ganz gut aufgehoben und machen da bislang ganz ordentliche Arbeit, und zwar deshalb, weil sie mit radikalen Standpunkten aufzeigen, dass wir vielleicht mal umdenken sollten und der Kapitalismus nicht unbedingt der Weisheit letzter Schluss ist. Ob man sie regieren lassen kann, wird sich vielleicht irgendwann zeigen. Meiner Meinung nach sind sie dafür nicht mehr und nicht weniger geeignet als die aktuellen Oberen. Und kommt mir bitte nicht mit dem Argument von wegen SED und DDR-Verhältnisse. Wer in Zeiten der Onlinedurchsuchung (oder der Schikanierung von Bürgern und Whistleblowern) vor lauter Stasi-Furcht nicht merkt, dass seine geliebten „Volksparteien“ bereits recht weit mit der Umsetzung sind, dem kann ich auch nicht helfen.
Na gut. Die Grünen. Ich muss sagen, ich halte die Gefahren der Erderwärmung, Genmanipulation und Nanotechnologie für eins der größten Probleme, die uns in naher Zukunft erwarten werden. Dass Atomkraftwerke weiter betrieben werden, obwohl wir selbst hier in Deutschland gruslige Vertuschungen und Sicherheitsmängel haben, und das nur aus Profitgier, finde ich unverantwortlich. Größter Kritikpunkt an den Grünen ist meiner Meinung nach allerdings, dass sie ihren pazifistischen Grundsatz unter der Regierung Schröder aufgegeben haben und die Chancen auf Rückkehr dorthin auch nicht allzu rosig aussehen. Von daher konstatiere ich: Grüne kann man, muss man aber nicht wählen.
Denn es gibt eine viel bessere Alternative.
Die Hälfte von euch kann sich wahrscheinlich schon denken, in Hinblick auf welche Partei ich den Spannungsbogen in diesem Artikel aufgebaut habe. Die Partei, von der es immer heißt, sie hätte ihren Namen unglücklich gewählt. Ich finde: Auch nicht unglücklicher als die Christ- oder Sozialdemokraten.
Die Rede ist natürlich von der Piratenpartei, die ihre Wurzeln in Schweden hat und dort eng verbunden mit der Filesharing-Website The Pirate Bay ist. Ausgehend davon gründeten sich in allen möglichen Ländern der Welt Piratenpartei-Ableger, und der Deutsche kann durchaus als der aktivste und erfolgreichste hinter der schwedischen Mutter angesehen werden.
Sehen wir den Tatsachen ins Auge, liebe Netzbewohner. Momentan wird nicht einfach Politik gemacht, die nicht auf uns eingeht, sondern die sich aktiv gegen uns richtet. Was früher „Politikverdrossenheit“ war und von allen Parteien beklagt wurde, wandelt sich in „Politik-Ekel“; die junge Generation ist politisch aktiv wie schon lange nicht mehr, und sie lässt sich nicht hinter’s Licht führen, sondern droht offen damit, dass das Internet nichts vergisst — auch nicht, wenn es von respekt- und ahnungslosen Politikern für populistische Wahlkampfmache missbraucht wird. Die Leute, deren natürlicher Lebensraum gefiltert, gesperrt und überwacht werden soll, hören auf genervt zu knurren und fangen an zu beißen, wie es sich für die getretenen Hunde, für die sie sich halten, gehört. Und es wird höchste Zeit.
Wisst ihr, was mir aufgefallen ist? Fefe hat früher immer gefragt, wo eigentlich die Revolution bleibt. Manchmal so oft, dass es schon genervt hat. Inzwischen hat er das seit über zweieinhalb Monaten nicht mehr gemacht. Und ich sage euch warum.
Weil die Revolution begonnen hat.
Sie hat damit begonnen, dass wir zigtausende Leute mobilisiert haben, ihr Veto gegen gefährliche Zensurpläne einzulegen. Diese Leute stehen öffentlich dazu, dass sie die Verbreitung von kinderpornographischem Material für ein grausames Verbrechen halten — das aber nicht besser wird, wenn unkontrollierbare Zensurmöglichkeiten geschaffen werden.
Sie hat damit begonnen, dass zigtausende Leute aus ganz Deutschland nach Berlin fahren, um dort gegen die zunehmende Überwachung zu protestieren. Und das trotz der deprimierend kärglichen medialen Aufmerksamkeit, die die Frage aufwirft, ob die Proteste bewusst verschwiegen werden sollen. Manche sehen schon einen medialen Krieg, „alte“ Presse gegen Internet. Da wäre es natürlich praktisch, die Netzgemeinde mittels Sperrlisten einfach mundtot zu machen.
Aber egal wie realistisch sie auch sind, die Zeit der Verschwörungstheorien ist vorerst mal vorbei. Denn wir sind am Zug. Wir können handeln. Wir haben mit einer Wucht zurückgeschlagen, die „das Establishment“ nicht erwartet hat: Neben großen Zeitungen haben selbst die öffentlich-rechtlichen Sender über uns berichtet. Aber das war erst der Anfang.
Denn jetzt zieht das Internet seine Kräfte zusammen, um für seine Freiheit zu kämpfen. Und zwar an dem einzig verbliebenen Schnittpunkt, der zwischen unseren Elfenbeinturm-Politikern und dem Souverän noch besteht: Den Wahlen. Und niemand verkörpert die Freiheit des Internet mehr als die Piratenpartei.
Zugegeben, die Piratenpartei nimmt ihren Auftrag, die Freiheit, radikaler wahr, als es manchen von uns vielleicht angenehm ist. Die Forderung nach freiem Kopieren und einer Reform des Urheberrechts mag Kunstschaffenden etwas zuviel des Guten erscheinen. Aber man muss sich fragen, ob dahinter nicht ein enormes kulturelles Potenzial steht. Die Mashup-Szene, die Open-Source- und Creative-Commons-Bewegung macht es vor: Kultur muss nicht auf Bezahlung basieren, und die Künstler überleben trotzdem — freilich ohne monströse profitsüchtige Plattenkonzerne, deren eigentliche Aufgabe, das Vervielfältigen und Vertreiben von Tonträgern, sich im Zeitalter des Internets schlicht erledigt hat, während im Namen ihres lobbymiefenden letzten Atemzuges immer noch Kinder kriminalisiert und Kreative unterdrückt werden.
Macht euch nichts vor: Die etablierten Parteien haben so viel Ahnung vom Netz wie ich vom Teppichknüpfen. Deshalb macht es auch keinen Sinn, auf die manchmal doch durchblitzenden Hoffnungsschimmer zu setzen. Diese Momente der Klarheit sind nur von kürzer Dauer, und dann kommt die medienpolitische Sprecherin der Grünen und erzählt uns, Google wäre ein Browser. Die Piraten sind momentan unsere einzige Hoffnung, wenn wir verhindern wollen, dass aus dem dezentralen, chaotischen und vor gelebter Demokratie nur so strotzenden Internet, in dem wir mindestens so sehr zuhause sind wie in der Wohnung, in der unser DSL-Anschluss liegt, eine Art „Fernsehen mit Rückkanal“ wird. Mit Erotikseiten erst ab 22 Uhr und blooooß keinen Leuten, die Dinge kritisch hinterfragen. Niemand sagt, dass das Internet ein rechtsfreier Raum sein soll. Das ist es schon heute nicht. Kinderpornografie ist im Internet heute schon genauso verboten wie im Zeitschriftenhandel. Das „rechtsfreie Internet“ ist eine Politikererfindung.
Aber wir laufen Gefahr, dass es bald ein Grundrechtsfreies ist.
Ihr könnt jetzt was bewegen. Geht wählen. Wenn ihr die Unterlagen in eurem Saustall nicht mehr findet, geht trotzdem und nehmt euren Perso mit, der legitimiert euch auch. Jeder, der heute sein Kreuz bei den Piraten macht, kann mit dem guten Gefühl nach Hause gehen, seinen Beitrag zur Rettung des Internet getan zu haben. Ich stelle mir jede Stimme für die Piratenpartei als einen saftigen Arschtritt für alle Zensoren, Überwacher, Demagogen und Unterdrücker vor. Mögen sie fünf Jahre lang holzbeinförmig kacken in ihrem Elfenbeinturm.
Ich wähle Piraten.
(Disclaimer: Ich bin kein Mitglied der Piratenpartei. Weil ich es bislang nicht für nötig erachtet hatte. Das hat sich im letzten Monat geändert. Und mein Mitgliedsstatus wird sich in diesem Monat ebenfalls ändern.)
(Und hey, wenn sich die Mitgliederzahlen der Piraten und der SPD weiter so entwickeln, wie sie es momentan tun, dann sind die Piraten bald wirklich die neue SPD.)